Land unter
In seinem ersten animierten Langfilm deckt Liu Jian den chancenlosen Alltag des chinesischen Proletariats auf. Die Verpackung in eine Krimistory kann jedoch nicht ganz überzeugen.
China, Ende 2008. Die Finanzkrise zwingt viele Fabriken Arbeiter zu entlassen oder gar ganz zu schliessen. So trifft es auch den jungen Zhang Xiaojun, der einzig in der Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen vom Land in die Grossstadt zog: er verliert seinen Job in der Schuhfabrik. Während es seinem besten Freund nicht viel besser ergeht und dieser sich deshalb als Drogendealer verdingt, versucht Zhang Xiaojun auf ehrliche Art und Weise eine neue Anstellung zu bekommen. Doch alles ist vergebene Müh und so entscheidet er sich schliesslich frustriert zu seiner Familie in sein Heimatdorf zurückzukehren. Kurz vor seiner Abreise beobachtet der junge Mann jedoch, wie eine alte Frau angefahren wird und bringt diese, in der Hoffnung, das Richtige zu tun, in das nächste Spital. Die Tochter der Frau ist jedoch Polizistin und glaubt Zhang Xiaojun, der keine Zeugen vorweisen kann, nicht ein Wort. Sie bezichtigt ihn, selbst die Tat begangen zu haben und zwingt ihn unter Folter und Prügel eine Aussage zu machen, die ihn schliesslich ins Gefängnis bringt. Nach seiner Freilassung sinnt er, von Wut und Enttäuschung getrieben, zusammen mit seinem Freund auf Rache am System. Sie stehlen ein Autokennzeichen und erpressen dafür Lösegeld. Nichtsahnend, dass sie damit unfreiwillig in ein kriminelles Netz geraten, aus dem sie sich nicht mehr befreien können…
Regisseur Liu Jian schuftete drei Jahren als Produzent, Regisseur, Zeichner und Animator und mit minimalen finanziellen Mitteln an Piercing I. Herausgekommen ist ein Werk, dass nicht mit Kritik am heutigen China spart und die aktuellen sozialen und politischen Misstände so schonungslos offenlegt, wie es wohl keine andere chinesische Produktion in den letzten Jahren getan hat. Die immer akuter werdende Landflucht der Bevölkerung und daraus resultierende, zerrüttete Migrantenfamilien sind genauso Thema, wie die Wirtschaftskrise vor zwei Jahren, die vor allem den kleinen Arbeitern den Todesstoss versetzte. Der Film wiederspiegelt die Strukturen eines Landes, in denen man entweder in der Partei ist oder untergeht. Während die Oberschicht korrupiert, wird die Unterschicht diskriminiert und geradezu in die Gewaltbereitschaft getrieben. Sicherlich kein leichter Tobak für einen Animationsfilm und auch die Umsetzung fällt linear dazu aus. Der Ton ist von Anfang an trübsinnig, die Bilder dunkel und schnörkellos: die Chancenlosigkeit der Hauptfigur ist in jeder Einstellung offensichtlich. Mag man sich auf diese Reise einlassen, erschliessen sich einem eine Vielzahl geschickt verwobener Andeutungen: in einem Zimmer hängt ein Michael-Jackson Poster, welches die westlich geprägte Jugend symbolisiert. Zwei Chinesen unterhalten sich auf der Strasse über den „neuen“ US-Präsidenten Obama und ob er wohl als Schwarzer das Land regieren könne und wenn Zhang Xiaojun unter einem Auto liegt und keine Luft mehr bekommt, ist dies wohl nicht nur den Abgasen dieses einen Fahrzeugs geschuldet, sondern der ohnehin dicken Smogwolke, die wie ein Schleier über China hängt und die Sonne verdunkelt.
Über diesen kritischen und äusserst interessanten Anspielungen vergisst Liu Jian allerdings seine Krimigeschichte spannend voranzutreiben. Weil diese zudem ziemlich vertrackt ist und zu schnell zwischen den einzelnen Figuren und ihren Storys hin-und-her wechselt, ist es für den Zuschauer kein leichtes, dem Inhalt immer lückenlos folgen zu können. Dies verhindert natürlich auch, dass man mit den Personen im Film eine stärkere Bindung eingehen kann. Der Schluss ist deshalb zwar konsequent, hätte jedoch sicherlich mehr bewegt, wären einem die Figuren näher gewesen. Trotzdem ist Liu Jians Animationsfilm, angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Mittel, immer noch eine beeindruckend ehrliche Gesellschaftsstudie.
PIERCING I (2010)
Land: China
Studio: Le-Joy Animation Studio
Regie: Jian Liu
Drehbuch: Jian Liu
Kamera: –
Animation: –
Musik: –
Laufzeit: 103 Minuten
Festival: Fantoche Baden
Verleih: FilmSharks International
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